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Humanist vielleicht und vielleicht liberal; Menschenfreund im Allgemeinen; reflektierend; angeborener Gerechtigkeitssinn

Samstag, 18. September 2010

Wie die Palästinenser ihre eigene Besatzung finanzieren oder „Erfolgreiche Wirtschaftspolitik mit dem Panzer“

Wenn man sich einmal palästinensische Geschäfte im Westjordanland zum Beispiel von Nahem anschaut, so bemerkt man dort überraschenderweise viele israelische Produkte. Man bemerkt, daß es dort sogar deutlich mehr israelische Produkte gibt als palästinensische. Ich fand das zumindest sehr, sehr überraschend. Mir stach die Inkonsistenz zwischen einerseits der permanenten politischen Klage der Palästinenser über die israelische Besatzung und den Siedlungsbau und der andererseits offensichtlich breiten Unterstützung in Israel produzierter Wirtschaftsgüter und Lebensmittel durch die Palästinenser ins Auge. (Die Vermutung, daß die Palästinenser israelische Güter bereitwillig, freiwillig und in großem Umfang konsumieren, liegt wegen der überwältigenden Gegenwart israelischer Produkte in palästinensischen Läden sehr nahe. Denn warum sollte ein palästinensischer Einzelhändler seinen Laden mit (israelischem) Zeugs vollstopfen, das sowieso niemand kauft? Nein, ich unterstelle einmal, daß palästinensische Händler schon gewinnorientiert arbeiten, denn sie sind ja keine Wohlfahrtsorganisation und hane auch ihre Familien zu ernähren.)

Also zurück zum Widerspruch: wie kann man einerseits die israelische Besatzung beklagen und andererseits israelische Produkte in erheblichem Umfang konsumieren? (Ich stelle diese Frage, ohne irgendeine eigene Wertung der Besetzung vorzunehmen. Diese Frage kann man so stellen, unabhängig davon, wie man selbst zur Besetzung steht.) Warum ist das überhaupt ein Widerspruch?

1. Die israelische Institution, die die Besatzung direkt durchführt und verwaltet, ist die Armee. Diese Armee wird vom Staat finanziert. Der Staat er hält die Mittel zur Finanzierung seiner Ausgaben aus Steuern (im Falle Israels kommen dazu noch umfangreiche Schenkungen aus Testamenten etc. von in der Diaspora lebenden Juden, weshalb der israelische Staat mehr Geld ausgeben kann, als er an Steuern einnimmt. Aber sei dieser Aspekt erstmal dahingestellt, an dieser Stelle sind nur die Steuern wichtig.) . Woher kommen die Steuern? Aus einem Großteil aus Unternehmenssteuern, die israelische Unternehmen, die sowohl Lebensmittel als auch andere Verbrauchsgüter produzieren, an den Staat zahlen. Je mehr Güter diese israelischen Unternehmen absetzen, umso höheren Umsatz und wahrscheinlich auch Gewinn werden sie machen (unterstellt man einen fixen Beitrag eines jeden Produktes zum Unternehmensgewinn) und entsprechend mehr Steuern zahlen sie an den Staat.

2. Die Palästinenser stellen durch ihren bereitwilligen Konsum israelischer Güter im Grunde einen, an der Größe Israels gemessenen, riesigen zusätzlichen Absatzmarkt dar. Zwar ist die Kaufkraft bei den Palästinensern im Durchschnitt wesentlich geringer als bei den Israelis, aber immerhin profitieren davon vielleicht nicht israelische Hochtechnologiefirmen, aber zumindest die Sektoren, die Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs herstellen, in enormen Umfang. Zudem muß man noch bedenken, daß die Palästinenser immense Summen von internationalen Geberländern in Form von Spenden und Entwicklungszusammenarbeit empfangen. Es ist kein Geheimnis, daß von diesem internationalen Geld, das eigentlich für den Aufbau der palästinensischen Gebiete gedacht ist, fast 100% direkt nach Israel abfließt nach mehrerer Studien der Weltbank. Will heißen, daß diese Finanzmittel kaum eine Wirkung/ Verbesserung der Lebensverhältnisse für die Palästinenser zur Folge haben, sondern letztendlich in den Taschen israelischer Unternehmer und damit teilweise des israelischen Staates enden. Kurz: das bißchen Kaufkraft, das die Palästinenser besitzen, fließt zu großen Teilen nach Israel ab und wird dort u.a. für die Finanzierung der Armee verwendet. Das einzige, was die Palästinenser einigermaßen über Wasser hält, ist das Geld aus dem Ausland. (Wie gesagt, das ist ganz und gar kein Geheimnis, es wird nur nicht in den Medien diskutiert!)

Das ist nun ein ganz und gar nicht nachhaltiges wirtschaftliches System (es trifft zumindest fürs Westjordanland zu, die Blockade Gazas schadet demnach nicht nur den Palästinensern, sondern auch der israelischen Wirtschaft erheblich, da damit 1,5 Millionen Verbraucher im potentiellen Absatzmarkt quasi vollständig wegfallen).

Überspitzt könnte man meinen: die Palästinenser schaufeln sich ihr eigenes Grab. Zumindest finanzieren sie ihre Besetzung teilweise selbst. Gleichgültig wie man ethisch dazu steht: Hut ab vor den Israelis!! Gewieft, gewieft!! Ich verfolge nicht nur über mehr als 40 Jahre eine Politik, die dem Völkerrecht harsch widerspricht, sondern sorge auch dafür, daß die Besetzten, auf deren Land ich ungefragt meine (völkerrechtswidrigen) Siedlungen hinstelle, das ganze Unterfangen sogar noch (teilweise) finanzieren! Respekt, Respekt, das nenne ich eine gewiefte Politik!!

Den Untertitel hatte ich gewählt, da die Israelis für dieses System eine nicht zu vernachlässigende Verantwortung tragen. Wenn während der heißen Phasen der Besetzung, d.h. also während Zeiten von aktiven und direkten Kampfhandlungen, israelische Panzer und Bulldozer in palästinensische Siedlungen einrollen und dort erst einmal so richtig um sich schlagen, bleibt nicht viel übrig bzw. ziemlich vieles liegt in Schutt und Asche. Ich persönlich glaube nicht, daß das Umsichschlagen ziellos vor sich geht. Die Armeeführung hat sie da sicherlich ganz spezielle Punkte ausgesucht, wo es vielleicht den Palästinenser am meisten weh tut (z.B. eine Brücke sprengen, damit man schwieriger oder überhaupt nicht mehr auf die andere Seite des Flusses/ Tales kommt, das Zerstören von Wirtschaftsbetrieben oder eben, wie vor einigen Jahren geschehen, des Hauptquartiers der PLO). Die israelische Armee hat dafür sicherlich Pläne. Nun weiß ich nicht, ob es einen Masterplan auf israelischer Seite gibt, der im Grunde auf die Herausbildung dieses (für die Palästinenser) ungesunden Wirtschaftssystems hingearbeitet hat. Will heißen: erst mit dem Militär die Wirtschaftsstruktur zerstört, dann (erfolgreich) den (vollkommen zollfreien) Absatzmarkt israelischer Produkte vergrößert. Das wäre ja sowohl ein Glanzstück effizienter Wirtschaftspolitik als auch sehr, sehr perfide. Wie gesagt, ich weiß es nicht, ob dies der Plan von vornherein war oder ob es sich zufällig so entwickelt hat und möchte auch nicht darüber spekulieren. Das überlasse ich anderen.

Nun, soweit zur israelischen Beteiligung. Nun zu den Palästinensern. Vielleicht haben sie diesen Mechanismus noch nicht ganz durchschaut, oder hat es vielleicht die palästinensische Führung und sagt’s ihren Bürgern auch irgendeinem Grund nur nicht… Wie dem auch sei. Zurück zu den palästinensischen Geschäften: irgendwie sind sich die Palästinenser über ihre nicht kleine wirtschaftliche Macht, die weniger aus ihrer „florierenden“ Wirtschaft, sondern v.a. der Demographie herrührt, nicht so recht bewußt. Ein bißchen vielleicht schon, worauf der Boykott von Waren aus den israelischen Siedlungen hinweist, aber nicht so ganz. Für mein Verständnis ist es sowieso schwer zu verstehen, daß die Palästinenser offensichtlich für Jahre einerseits die Besatzung beim Bau jeder neuen Siedlung lautstark beklagt, aber dann, wenn die Siedlung fertig war, mit ihr so allerlei Handel betrieben haben, die Siedlungen damit nicht nur IMPLIZIT POLITISCH AKZEPTIERT, sondern auch WIRTSCHAFTLICH UNTERSTÜTZT haben!!! Warum dann das ganze Klagegeschrei? Das ist ein sehr, sehr großer Widerspruch, den mir bislang noch kein Palästinenser erklären konnte. Und identisch verhält es sich mit Waren, die AUS Israel IN DIE palästinensischen Gebiete kommen und von denen die palästinensischen Einzelhandelsgeschäfte nur so voll sind. Auf palästinensischer Seite muß man sich mal entscheiden, was man denn nun möchte: ein Ende der Besatzung oder von den billigen und guten Waren israelischer Unternehmen profitieren, seien sie nun entweder in Israel oder den Siedlungen niedergelassen. Beides gleichzeitig zu wollen, ist unglaubwürdig, da zutiefst widersprüchlich.

Gesetzt den Fall, man wolle von palästinensischer Seite, wie unablässig laut verkündet, das Ende der Besatzung, dann sollte man aber auch an der Wirtschaftsfront entsprechend handeln. Die israelische Armee kann kommen und Straßen und Gebäude zerstören, doch kann die Besatzungsmacht nicht (bzw. nur sehr schwer umsetzbar) den einzelnen Palästinenser zu gewissen Gedanken und (friedlichen) Handlungsweisen zwingen. Jeder Palästinenser hat die Wahl, welche Waren er kauft. Selbst wenn Israel die Außengrenzen und damit den Außenhandel der Palästinenser kontrolliert und sie somit nicht so einfach das Milchpulver von Jordanien statt Israel importieren können, kann ein entsprechendes wirtschaftliches Verhalten des Individuums eine sehr effektive Form von friedlichem Widerstand sein, v.a. umso mehr das Verhalten Breitenwirkung erfährt. Da muß die palästinensische Führung nicht den Boykott von Waren aus den Siedlungen großartig medial in Szene setzen, das geht still und leise, aber könnte ein nicht zu vernachlässigendes politisches Potential mit sich bringen (u.a. der Besatzungsmacht zu zeigen, daß sich der Einzelne klar für das Ende der Besatzung entschieden hat uns sich seines politischen Potentials im Klaren ist).

Gedankenexperiment: Wie würden die Israelis schauen, wenn, wenn sie irgendwann einmal die Grenzen zum Gazastreifen wieder völlig öffnen sollten, die ganzen kleinen effizienten palästinensischen Unternehmen, die während der Blockade entstanden sind, den israelischen Markt mit ihren Produkten überfluten(und damit Kaufkraft von Israel nach Gaza abziehen würden???)? Wenn die Hamas statt in Raketen zu investieren, ihr Geld in ein massives Existenzgründungsprogramm für kleine und mittlere Unternehmen steckt, die lohnkostentechnisch israelische Unternehmen wegen dem weit niedrigeren Lebensstandart um Längen überlegen sind? Der israelischen Regierung würde innenpolitisch die Hölle heiß gemacht werden, aber nicht von (primitiven) palästinensischen Raketen (die, entgegen der israelischen Regierungspropaganda, ganz sicher KEINE Gefahr für die Existenz des Staates Israel darstellen) oder Selbstmordattacken, sondern weil es zu einem Unternehmenssterben in Israel durch die gnadenlos effiziente palästinensische Konkurrenz kommt. Und sterbende Unternehmen sind allemal die bessere Alternative zu sterbenden Menschen  (Gut, ich höre den Skeptiker da schon wieder tönen: was ist, wenn israelische Panzer und Bulldozer dann im Gazastreifen nochmals als (zugegeben recht kreatives) Mittel der Wirtschaftspolitik eingesetzt werden? Nun, ich denke, das dürfte wesentlich schwieriger sein, wenn man von israelischer Seite nicht das Argument der Sicherheitsmaßnahmen anführen kann.)

Aber das tut die palästinensische Seite leider nicht, weder auf politischer noch auf Verbraucher- oder Produzentenebene, obwohl das ebenso gewieft wie das israelische Vorgehen wäre. Wie gesagt Wirtschaftskrieg ist sicher auch nicht das Optimum, aber allemal besser als ein heißer Krieg um Menschenleben… das geringere Übel, wie der deutsche Volksmund so schön sagt…

Soweit einige Gedanken zu einer Beobachtung in palästinensischen Einzelhandelsgeschäften.

P.S. Ich fände es kreativ, wenn die politische Führung der Palästinenser (zumindest die im Westjordanland) als mittel- bis langfristiges Hauptziel politischen Handelns die Erreichung eines Nettohandelsüberschusses mit Israel ins Auge fassen würde bzw. zumindest eine erhebliche Reduzierung des bestehenden Defizits. Das wäre doch mal etwas! Aus so einem Ziel folgen vielfältige Handlungsleitlinien in vielen Politikbereichen, z.B. in der Bildung, Stadtentwicklung, Steuern etc. etc.

P.P.S. Auch wäre ein palästinensischer Ghandi doch einmal eine Person, die dem durchschnittlichen Palästinenser nützen würde, der sehr geschickt kreativen aber effektiven gewaltlosen Widerstand auf breiter Basis unter den Palästinensern etablieren könnte. Aber der ist, soweit ich die Sache überblicke, nicht in Sicht…

Und zu guter Letzt: ich bin ja von Natur aus kein Skeptiker, aber Realist zumindest. Daher würde es mich wirklich wundern, wenn Netanjahu und Abbas eine konstruktive Vereinbarung bei den gegenwärtigen Gesprächen hinbekommen, die über den status quo wesentlich hinausgeht. Glaube ich nicht, daß sie dazu in der Lage sind. Erstens sind beide alte Männer und daher wahrscheinlich zu sehr in ihren jahrzehntealten Gedanken und Ideen gefangen. Zweitens hat Abbas nicht wirklich die breite Unterstützung, die er für derartig weitgehende Verhandlungen brauchen würde. Außerdem ist Palästina politisch geteilt. Und jeder Tag, der unter diesem Zustand vergeht, kommt den Israels zu gute und ist negativ für die Palästinenser, denn so wird mit jedem neuen Tag die politische Aufsplitterung derer ein winziges Stückchen mehr zementiert und Kleinvieh macht bekanntlich auch Mist… Und Netanjahu? Ach keine Ahnung… Daß der teils aus innenpolitischen Gründen, teils aus persönlicher Überzeugung auf den Siedlungsbau verzichten und die Siedlungen (zumindest die meisten von ihnen) sogar räumen lassen würde, schätze ich in etwa so wahrscheinlich ein, als wenn der Wolf auf das Verspeisen von Rotkäppchen verzichten und Vegetarier werden würde, nur weil es die Vögelchen von den Bäumen pfeifen.

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