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Humanist vielleicht und vielleicht liberal; Menschenfreund im Allgemeinen; reflektierend; angeborener Gerechtigkeitssinn

Freitag, 6. April 2012

Günter Grass und die Medien

Grass hat eine Lawine losgetreten, die immer noch an Fahrt aufnimmt. Die Journalisten überschlagen sich mit Berichterstattungen, Hintergründen, "Faktenchecks" etc. (seit wann werden die "Fakten" eines Gedichts geprüft?!)

Die ARD stellt fest: "Reaktionen auf umstrittenes Gedicht
Wen interessiert in Israel die Meinung von Grass?
In Deutschland schlägt das Grass-Gedicht hohe Wellen, in Israel wird es allenfalls am Rande zur Kenntnis genommen."


Die deutsche Presse überschlägt sich zumindest ihrer hysterischen Berichterstattung über Grass' Gedicht (auch international wird ausführlich, wenn auch weniger aufgeregt darüber berichtet). Das ZDF hat aus dem Stand mehr als 20 Beiträge zu Stande bekommen, im ARD-Archiv finden sich mehr als 40 Beiträge zum Thema (davon einige Mehrfachnennungen). Aber nutzen wir doch die Gelegenheit, die Aussagen der deutschen Medien anhand dieses Beispiels zu prüfen. Korrespondent Aßmann stellt in dem ARD-Bericht fest: "Die israelische Öffentlichkeit nahm das Grass-Gedicht nur am Rande zur Kenntnis. Die Kernaussagen tauchten in einigen Medien kurz auf. Israel hat andere Themen. Die große Empörung blieb bisher aus."

Zuerst stellt man fest, daß die Angelegenheit dem israelischen Militärradio Galgalatz am 4. und 5. April immerhin eine regelmäßige Erwähnung in den Nachrichten zur vollen Stunde wert war. Liberale israelische bzw. jüdische Blogs pflichten Grass bei:
Despite Israeli charges, Gunter Grass is not an anti-Semite
More power to Gunter Grass for ‘What must be said’
A further defense of Gunter Grass  (mit einer sehr interessanten und ausgewogenen Diskussion in den Kommentaren)
“More power to Gunter Grass for ‘What must be said’”

Das Gedicht wurde umgehend auf Englisch und Hebräisch übersetzt.

Auf der Homepage der israelischen Botschaft in Berlin erscheinen auf der Eröffnungsseite zwei Stellungnahmen zum Gedicht: von Gesandten, den das ZDF fast zum Nashorn umgetauft hätte, und von Netanyahu höchstpersönlich. Nun, spätestens hier kommen doch Zweifel auf an der oben erwähnten Darstellung der ARD. Wenn das Gedicht niemanden in Israel interessieren würde, würde der Gesandte und der Ministerpräsident höchstpersönlich Stellungnahmen zu einem Gedicht (!!!!) veröffentlichen? Beschäftigen sie sich regelmäßig mit Literatur- bzw Poesiekritik? Zu wievielen Gedichten hat Netanyahu in seinen beiden Amtszeiten öffentlich Stellung genommen? Diese Fragen kommen den ARD- und ZDF-Journalisten interessanterweise nicht in den Kopf. Stattdessen bemühen sich die öffentlich-rechtlichen Medien (!!!) die Angelegenheit einseitig herunterzuspielen.

Aber schauen wir uns weitere israelische Medien in ihrer "kurzen" Berichterstattung an:
dem Boulevardblatt und Massenmedium Jediot Acharonot ist die Angelegenheit nur eine Randnotiz wert, es nimmt sich der Sache lediglich in den wenigen folgenden Artikeln an:
Worldnews am 4.4.2012
Nobel winner Grass wades into Israel-Iran tensions 
German author Grass says Israel endangers world peace

Gunter Grass lashes out at 'campaign' over Israel-Iran poem
Guenter Grass hits out at 'campaign' over Israel-Iran poem

Netanyahu: Guenter Grass poem 'shameful'
PM slams Guenter Grass over anti-Israel poem 
Germany to honor 3rd Reich soldiers?
Something rotten in Germany (Giulio Meotti!)

Das ist eine stattliche Berichterstattung (7 längere Artikel und zwei kurze Erwähungen innerhalb von 2 Tagen) angesichts der obigen Feststellung des ARD-Journalisten: "Die israelische Öffentlichkeit nahm das Grass-Gedicht nur am Rande zur Kenntnis. Die Kernaussagen tauchten in einigen Medien kurz auf. Israel hat andere Themen. Die große Empörung blieb bisher aus."

Berichten andere israelische Medien ebensowenig über die Angelegenheit?
Was berichtet die Haaretz?
The moral blindness of Gunter Grass  (erscheint am 6.4. auch unter den "most popular articles in the last 24 hours")
Gunter Grass' poem is more pathetic than anti-Semitic  (Tom Segev)
The German who needed a fig leaf (Tom Segev)
Ein interessanter Kommentar dazu:
"CogitoMan 27.08.11 03:34
I see nothing but honest German there. I am Pole and I have read Tin Drum about 40 years ago. It was my first insight into the "other" side there. Blaming Grass for joining Waffen SS shall be no different than blaming Jews for joining CZEKA in Stalinist Russia. Somehow I have yet to see any critical article in Jewish press on that topic. After all they both were equally murderous organizations. Shame!"
German Nobel laureate Guenter Grass' new poem: Nuclear Israel is a threat to world peace
Netanyahu slams Guenter Grass for controversial Israel poem
German Nobel Prize winner Guenter Grass comes under fire after criticizing Israel in poem

Nun, immerhin 6 ziemlich ausführliche Artikel innerhalb von zwei Tagen.

Israel HaYom hat nur einen Artikel am 5.4. (der 6.4. ist ein Freitag, d.h. Schabbatbeginn, an dem die Zeitung nicht arbeitet):
'Grass' poem continues European tradition of blood libel'

Die Jerusalem Post berichtet in 4 Artikeln:
PM slams author Grass for 'ignorant' Israel slurs
What ‘never again’ means for Günter Grass
German writer: 'Israel is world's greatest danger'
German author says Israel endangers world peace

Gegeben, daß sich dieser Überblick lediglich die englischsprachigen Homepages der vier wichtigsten Zeitungen berücksichtigt, ist die Berichterstattung in Israel für die kurze Zeit von 2 Tagen enorm. Wenn man dieses Ausmaß mit der dürftigen israelischen Berichterstattung über die neulichen Bundespräsidentswahlen vergleicht (wozu interessanterweise kein ARD-Reporter festgestellt hat, daß diese kaum wahrgenommen wird in Israel), dann scheint die israelische Öffentlichkeit, im Gegensatz zur objektiven Feststellung in der "Berichterstattung" der ARD, um ein Mehrfaches an der 'Causa Grass' interessiert zu sein. Ein Schelm, der Böses dabei denkt...

So bleibt die Frage, ob die deutschen Medien, deren Aussagen in der Berichterstattung erstaunlich in die gleiche Richtung gingen und gehen (weshalb Grass' Einschätzung einer gewissen Gleichschaltung nicht an den Haaren herbeigezogen ist), diese Fakten und die Komplexität der Sache, wie am israelischen Medienecho hier exemplarisch gezeigt, nicht wahrhaben wollen oder nicht in der Lage sind, sie adäquat widerzugeben.

Ein weiteres Problem ist die (verantwortunglose) Naivität der Journalisten. Der angesprochene ARD-Bericht wurde am 04.04.2012 20:04 Uhr, nur wenige Stunden nach dem Ausbruch der deutschen Medien-Hysterie bzw. des Grass'schen Fiebers veröffentlicht. Sicher waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht viele der oben erwähnten Artikel in Israel veröffentlicht, da die Wahrnehmung und Verarbeitung der Angelegenheit natürlich etwas Zeit braucht, und wenn es nur 12 Stunden sind, und die israelische Presse sicher andere Schwerpunkte hat, als das Verfolgen der Arbeit der deutschen Journalisten und derer Rezeption. Wenn man am Anfang eines Krieges über diesen berichtet, wird man nur wenige Tote finden, das liegt in der Natur der Sache. Daher war die Einschätzung der ARD zu diesem Zeitpunkt sicher nicht falsch, doch erheblich naiv allerdings, da sie (absichtlich oder tatsächlich aus Naivität) nicht die ganze Wahrheit zeigt, sondern diese grob verfälscht, wie hier aufgezeigt, und einen falschen Eindruck erweckt.

Und nun steht sie als "Nachricht" auf der Homepage der Tagesschau...
Ein Schelm, der Böses dabei denkt...

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